Bundesweite Angriffe auf unsere Strukturen – zur neuen Gefahrenlage in Baden-Württemberg

In Baden-Württemberg ist gerade ein verstärkter Angriff der Repressionsbehörden auf emanzipatorische Strukturen zu verzeichnen.

Am 2. Juli 2020 mussten Genossinnen quer durch das Bundesland eine spektakuläre Hausduchsuchungswelle miterleben [1]. Der vermeintliche Grund für dieses Spektakel soll laut den Cops der Angriff auf Neonazis in Stuttgart am 16. Mai 2020 gewesen sein. 9 Häuser wurden von vermummten, schwerbewaffneten Cops gestürmt und eine Person, der Antifaschist Jo, sitzt seitdem mit dem Vorwurf des versuchten Todschlags in Untersuchungshaft [2]. Die Durchsuchungswelle scheint eine pressewirksame Inszenierung der Cops zu sein. Dies zeigt vor allem die Durchsuchung der Lu15 in Tübingen, da die betroffene Person am besagten Tag nicht einmal in Stuttgart war [3].

Über das Vorhaben, das Polizeigesetz erneut massiv zu verschärfen, haben wir bereits im Mai berichtet. Passend zu diesem Vorhaben veröffentlichte das Landesamt für Verfassungsschutz Mitte Juni seinen “Bericht” für 2019: ein Sammelsurium an rechter Propaganda, das insbesondere auf die antiautoritäre Bewegung Freiburgs zielt. Der Geheimdienst löste mit diesem Bericht eine intensive anti-linke Berichterstattung (u.a. der Badischen Zeitung) aus.

Auch für die Verfolgungsbehörden ist der Bericht des Geheimdienstes gefundenes Fressen. Die politische Staatsantwaltschaft aus Karlsruhe ist schon seit Jahren für ihre übereifrige Verfolgung linker Aktivistinnen sowie für ihre rechten und polemischen Plädoyers bekannt. Seit der Veröffentlichung des neuen Verfassungsschutzberichts bezieht sich die Staatsanwaltschaft in jedem von ihr geführten Verfahren auf diesen, wie z.B. im Gerichtsprozess vom 29. Juni 2020 in dem es eigendlich um die Hausbesetzung des Gilgenmattenweges ging. Zusätzlich prangerte Staastanwalt Graulich die Finanzierung des Autonomen Zentrums KTS an und forderte die Richterin dazu auf, sich vorzustellen, wieviele Grillanzünder aus dieser Geldsumme gekauft werden könnten.

Weiterhin versucht der Verfassungsschutz tiefer in unsere Strukturen vorzudringen, um Informationen zu gewinnen. Neben dem üblichen Auswerten von öffentlich zugänglichen Informationen, dem Auswerten von Bewegungsprofilen und Abfangen von Post und e-mails sowie Abhören von Telefonaten, versucht der Verfassungsschutz immerwieder Menschen aus der Szene anzuwerben. So am 4. Juli 2020 in Freiburg geschehen [4].

Also: trefft Vorkehrungen (Security Culture), um euch und damit mit auch Andere, vor Repression und Überwachung zu schützen:

Eine kurze Einführung zur Security Culture

*diese Kurzinfo hat keinen Anspruch einen vollständigen Überblick über das Thema zu geben

Um unsere Strukturen zu schützen und Repression und Überwachung durch Staat, Konzerne, Faschist*innen und andere abzuwehren, wurde das Konzept der Security Culture entwickelt. Es geht dabei nicht nur darum Geräte und Emails zu verschlüsseln, sondern Sicherheit als ein ganzheitliches Konzept zu erkennen, dass neben digitaler Sicherheit auch soziale und physische Aspekte betrachtet.

Dabei ist es auch essentiell zu verstehen, dass Sicherheit nie eine individuelle Entscheidung ist. Es geht genauso um die Sicherheit eures Umfeldes und unserer Strukturen bei der Frage, wie unsere Sicherheitsstandards sind. Insofern kann der Versuch uns und unsere Strukturen zu schützen nur kollektiv funktionieren.

Die drei Dimensionen der Security Culture

Soziale Sicherheit

✰ „Don‘t ask, don‘t tell“ Prinzip
Beispiel: Es reicht Freund*innen zu sagen ihr geht zu einem Treffen, ihr braucht nicht zu sagen von welcher Gruppe oder wo es stattfindet.
✰ Nur so viel Wissen wie nötig
Fragt euch bei jeder Info, die ihr weitergebt, muss die andere Person das wissen. Nicht nur Informationen, wer was genau macht, sondern auch wer eine Aktion organisiert, die Netzwerke dahinter, etc. sind für Repression sehr relevant.
Wichtig: Gilt auch nach Aktionen, Aktionsgemacker gefährdet uns alle!
Beispiel: Es gibt bessere Wege Menschen voneinander zu unterscheiden, als sie bei ihrer Polit-Gruppen Zugehörigkeit zu nennen.
✰ Verschiedene Aktionsbereiche und -level trennen
Beispiel: Bei einer offenen Plattform können auf Treffen gut neue Leute gewonnen werden, Themen breiter diskutiert werden, etc. – es ist aber der falsche Ort, um Leute für eine Aktion, die starker Kriminalisierung ausgesetzt sein kann, zu mobilisieren.
✰ potentielle Zuhörer*innen beachten
Welche Informationen gebe ich an welche Orte weiter? Könnten unbeteiligte Zuhörer*innen dort mitlauschen?
Beispiel: Eine Demo ist kein guter Ort, um die letzte Aktion nachzubesprechen.

Physische Sicherheit

✰ Wer hat Zugang zu was?
Beispiel: Der Raum in dem ihr eure Aktionsmaterialien lagert: ist er abgeschlossen, wer kann dort alles rein?
✰ Seid ihr auf Hausdurchsuchungen vorbereitet?
Habt ihr ein Plakat “Checkliste Hausdurchsuchung” an die Tür gehängt? Eine Handynummer einer Anwält*in? Habt ihr in der WG schon mal darüber geredet, wie ihr mit so einer Situation umgehen wollt? Ist bei euch aufgeräumt?
Kalender, unverschlüsselte Sticks /Handys / Laptops sind bei einer Hausdurchsuchung das größte Geschenk für die Bullen.
✰ Welche Spuren hinterlasst ihr?
z.B. Fingerabdrücke, bezahlen mit EC-Karte, Video-Aufnahmen, Hausmüll, Flyer, SMS, Metadaten…
✰ Welche Räume haben ein besonders hohes Repressionsrisiko? Sollten dort dann Treffpunkte für Aktionen sein?
Repressions-Beispiel: In Tübingen wurden mehrere Hausprojekte im Jahr 2016 videoüberwacht. In Hamburg wurde der Infoladen Schwarzmarkt und das Hausprojekt darüber videoüberwacht. Die KTS wurde 2014 videoüberwacht und 2017 durchsucht.
✰ Welche Kleidung auf Aktionen tragen? Welche Kleidung und Dinge solltet ihr nach Aktionen loswerden?
Repressions-Beispiel: Sehr häufig werden Kleidungsstücke als Beweise vor Gericht verwendet und bei Hausdurchsuchungen gezielt danach gesucht.

Kommunikation und digitale Sicherheit

✰ Umfasst u.a.: Briefe, Telefone, Email, Chat/Messenger, „Soziale“-Netzwerke, digitale Informationen (Daten auf Computer, Cloud, …), Funk …
✰ Bereiche, die wir schützen wollen:
Inhalt unserer Nachrichten und Daten, Metadaten: z.B. wer redet mit wem, mit welcher Kamera wurde das Bild gemacht, etc.
Repressions-Beispiel: In Basel wurden Leute vor Gericht gezerrt für eine Scherben-Sponti, nur weil sie am Tag der Sponti mit anderen Beschuldigten SMS geschrieben haben.
✰ Bedenke, dass unverschlüsselte Kommunikation (Mails, SMS, http statt https) unglaublich einfach zu überwachen ist, verschlüsseln hingegen hat sich immer wieder bewährt.
✰ Mache vor einem Treffen/einer Aktion niemals dein Handy aus! Lege es entweder angelassen beiseite oder lass es zu Hause. Wenn 10 Leute gleichzeitig ihr Handy ausmachen lässt sich daraus schließen, dass sie sich treffen und nicht belauscht werden wollen. Repressionsbehörden lieben solche Metadaten und kommen (sogar im nachhinein) problemfrei an sie heran.
✰ Vergiss auch nicht, dass sich mit Handys einfach Bewegungsprofile erstellen lassen.
✰ Welche Daten verbreitest du im Internet, speziell in sozialen Medien?
Repressions-Beispiel: Immer häufiger werden Bilder aus „Sozialen“-Medien von den Verfolgungsbehörden zur Identifizierung von Beschuldigten genutzt.

Im Allgemeinen gilt: Sicherheitsbewusstsein statt Paranoia!

Damit eine Sicherheitsstrategie funktionieren kann, muss Handlungsfähigkeit erhalten bleiben:
✰ Ein Sicherheitsstandard der dich handlungsunfähig macht, ist eine Vorverlagerung der Repression.
✰ So sicher Arbeiten wie möglich und trotzdem praktikabel bleiben
✰ In Gruppen darf ein Sicherheitsstandard Menschen nicht ausschließen, stattdessen Skillshare und Workshops bis alle es nutzen können. Aber auch ein zu niedriger Sicherheitsstandard schließt Menschen aus.
✰ Nur kollektive Sicherheitsstandards bieten Schutz für uns und unsere Strukturen.
✰ Repression trifft uns nicht alle gleich. Aufenthaltsstatus, potenzielle Berufsverbote und Bewährung können zu sehr unterschiedlichen Risiken für Einzelne führen.
✰ Faulheit ist nicht dasselbe wie Unpraktikabel!